Eine Steuerhinterziehung liegt objektiv nicht vor, wenn zwar pflichtwidrig keine Steuererklärung abgegeben wird, dem Finanzamt aber alle erforderlichen Informationen in Form elektronischer Lohnsteuerbescheinigungen vorliegen.
Sachverhalt
Streitig war die Frage der vollendeten Steuerhinterziehung in den Jahren 2009 und 2010 und der dadurch bedingten verlängerten Festsetzungsfrist.
Bis einschließlich 2008 erzielte lediglich der Ehemann Einkünfte als Arbeitnehmer. Er wurde mit seiner Ehefrau im Rahmen der Antragsveranlagung zusammen veranlagt. Ab 2009 erzielte auch die Ehefrau Einkünfte als Arbeitnehmerin. Der LSt-Abzug des Ehemanns erfolgte weiterhin nach Steuerklasse III, derjenige der Klägerin nach Steuerklasse V.
Die entsprechenden LSt-Bescheinigungen für 2009 und 2010 wurden vom Arbeitgeber dem FA elektronisch übermittelt und in dessen Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuer-Nr. der Eheleute erfasst. Sie waren damit dort abrufbar. Auf den vom Arbeitgeber an den Ehemann ausgehändigten LSt-Bescheinigungen war vermerkt, dass die dortigen Daten maschinell an das FA übertragen worden seien. Die Eheleute reichten ab 2009 keine ESt-Erklärungen mehr ein. Diese wurden vom FA auch nicht angefordert.
Bei einer Prüfung im Jahr 2018 fiel auf, dass für die Eheleute eine Pflichtveranlagung hätte erfolgen müssen und daher ab 2009 die Pflicht zur Abgabe von ESt-Erklärungen bestanden hätte. Das FA setzte daraufhin für 2009 und 2010 im Jahre 2018 in Schätzungsbescheiden ESt und Verspätungszuschläge fest.
Hiergegen machten die Steuerpflichtigen den Ablauf der Festsetzungsfrist geltend, da sie Hinweise auf eine Steuererklärungspflicht nicht zur Kenntnis genommen hätten und vom FA auch nicht zur Erklärungsabgabe aufgefordert worden seien. Ihrer Meinung nach hätten sie also nicht vorsätzlich gehandelt. Der Einspruch blieb jedoch erfolglos, da die Eheleute nach Meinung des FA zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hätten. Bei Vergabe der Steuerklassen sei auf die Abgabepflicht hingewiesen worden. Der Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung würde nur durch Mitwirkung der Steuerpflichtigen oder eine Kontrollmitteilung auffallen. Die eDaten-Prüfliste, mit der eine Prüfung ermöglicht wurde, habe als Programmleistung den Finanzämtern erst ab 2018 vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Das FG gab der Klage statt.
Reguläre oder verlängerte Festsetzungsfrist
Die reguläre Festsetzungsfrist (F-Frist) von vier Jahren, nach deren Ablauf eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig ist, verlängert sich auf zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen wurde, und auf fünf Jahre bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Die F-Frist für 2009 begann am 31.12.2012 und für 2010 am 31.12.2013, da hierfür pflichtwidrig keine ESt-Erklärungen eingereicht worden waren. Die vierjährige F-Frist lief folglich für 2009 am 31.12.2016 und für 2010 am 31.12.2017 ab.
Keine verlängerte F-Frist, da keine Steuerhinterziehung durch Unterlassen
Eine Steuerhinterziehung setzt die vorsätzliche Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 370 AO voraus, die Steuerverkürzung i. S. d. § 378 AO die entsprechende leichtfertige Tathandlung. Die Tathandlung kann auch durch Unterlassen erfolgen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO), wenn das FA pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen und dadurch Steuern verkürzt werden.
Hieran scheitert es im Streitfall, da dem FA die für die ESt-Festsetzung wesentlichen Umstände aufgrund der ihm vorliegenden und unter der Steuer-Nr. der Eheleute erfassten und in einer Übersicht abrufbaren elektronischen LSt-Bescheinigung bekannt waren, nämlich dass bei dem Ehemann der LSt-Abzug nach StKl. III und bei der Klägerin nach StKl. V erfolgt war.
Verletzung der Erklärungspflichten allein reicht nicht für Bejahung der Hinterziehung
Zwar haben die Eheleute nach dem Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung die Abgabe der ESt-Erklärungen 2009 und 2010 pflichtwidrig unterlassen. Dies reicht aber allein nicht aus, um den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zu verwirklichen, wenn das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den für die Steuerfestsetzung maßgebenden tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis hatte. Denn ein Steuerpflichtiger kann ein FA nicht, wie in § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO verlangt, „in Unkenntnis über steuerlich erhebliche Tatsachen“ lassen, wenn dieses tatsächlich bereits über diese maßgeblichen Umstände informiert ist (OLG Oldenburg 10.7.18, 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79; FG Düsseldorf 26.5.21, 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331; OLG Köln 31.1.17, III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363; BFH 4.12.12, VIII R 50/10, BStBl II, 14, 222).
Entscheidung im Streitfall
Da die Kläger keine weiteren Einkünfte hatten und die mit den elektronischen LSt-Bescheinigungen an das FA übermittelten Daten konkret mit der Steuer-Nr. der Kläger verknüpft, dieser tatsächlich zugeordnet und in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen für das FA abrufbar waren und zur Bearbeitung und Überprüfung bereitstanden, waren dem FA alle für die Besteuerung wesentlichen Daten bekannt.
Eine Hinterziehung ist auch nicht bereits deshalb anzunehmen, weil die Kläger durch die Nichtabgabe keinen Bearbeitungs- und Überprüfungsvorgang angestoßen haben. Es mag nachvollziehbar sein, dass das FA in gewöhnlichen Arbeitnehmerfällen grundsätzlich keine Akte anlegt, um sie zur Bearbeitung oder Überprüfung heranzuziehen. Mangels Steuerhinterziehung greift deshalb die reguläre vierjährige F-Frist, die bei Erlass der angefochtenen ESt-Bescheide in 2018 bereits abgelaufen war.
Rechtswidrigkeit der Festsetzung der Verspätungszuschläge
Die Festsetzung der Verspätungszuschläge für 2009 und 2010 ist nicht ermessensgerecht. Das FA geht im Rahmen seiner Ermessenserwägungen von einem unzutreffenden Sachverhalt aus, da es fälschlich von rechtmäßigen ESt-Festsetzungen für 2009 und 2010 ausging, die jedoch wegen Ablaufs der F-Frist rechtswidrig sind.
Fazit | Nach dieser unseres Erachtens überzeugenden Entscheidung liegt keine Hinterziehung durch Unterlassen vor, wenn dem FA die entscheidungserheblichen Tatsachen bereits anderweitig bekannt sind. Es ist zu erwarten, dass sich der BFH der Entscheidung anschließt.
Hinzuweisen ist aber darauf, dass eine Hinterziehung vorliegen kann, wenn außer dem Wechsel zur Pflichtveranlagung wegen der Steuerklassenwahl noch weitere Einkünfte hätten erklärt werden müssen. Zu bedenken ist weiterhin, worauf auch das FG in einer Nebenbemerkung hinweist, dass eine versuchte Hinterziehung vorliegen kann, wenn pflichtwidrig beim Wechsel zur Pflichtveranlagung keine Erklärungen abgegeben werden. Dies ist aber nur steuerstrafrechtlich relevant und führt nicht zur Anwendung der zehnjährigen F-Frist.
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FG Münster 24.6.22, 4 K 135/19, Rev. BFH VI R 14/22