Verkauft eine Bäckerei in Filialen, die sich teilweise in „Vorkassenzonen“ eines Supermarkts befinden, Speisen zum Verzehr vor Ort auf Mehrweggeschirr und mit Mehrwegbesteck, das es nach dem Verzehr der Speisen zurücknimmt und reinigt, führt sie damit (ebenso wie ein Partyservice) sonstige Leistungen aus, die vor Inkrafttreten des § 12 Abs. 2 Nr. 15 UStG dem Regelsteuersatz unterlagen. Artikel 6 Absatz 1 Sätze 1 und 3 der Durchführungsverordnung zur Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie sind auch in Besteuerungszeiträumen vor ihrem Inkrafttreten anwendbar, weil sie rückwirkend Begriffe klären, die sich bereits zuvor in der 6. EG-Richtlinie bzw. der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie befunden haben.
Sachverhalt
Die Steuerpflichtige stellte im Streitjahr Backwaren aller Art her, vertrieb diese und betrieb Konditoreien und Cafés. In insgesamt 84 ihrer Filialen stellte die Steuerpflichtige Tische und Bestuhlung bereit, wobei sich Tische und Stühle überwiegend innerhalb dieser Filialen, ganz vereinzelt aber zusätzlich auch im Freien befanden. 71 der streitbefangenen Filialen befanden sich in sog. Vorkassenzonen (nicht durch geschlossene Wände abgetrennte Eingangsbereiche) von Lebensmittelmärkten. 13 Filialen waren separat betriebene Ladengeschäfte.
In allen 84 Filialen erfolgte die Ausgabe der zum Verzehr vor Ort bestimmten Waren und Speisen an den Kunden grundsätzlich direkt am Verkaufstresen. Das Abräumen der (teilweise mit Tischdecken und Blumenschmuck versehenen) Tische oblag in der Regel den Kunden, wobei zur Rücknahme des ausgegebenen Geschirrs Regale bereitstanden, die grundsätzlich durch die Kunden zu befüllen waren. Wenn die Kunden das Abräumen der Tische unterließen, räumte das Personal das Geschirr von den Tischen. Anschließend wurde das Geschirr von Arbeitnehmern gereinigt, die ausschließlich als Verkaufspersonal für Backwaren und nicht als Kellner, Koch oder gastronomisch ähnlich qualifiziertes Fachpersonal angestellt waren.
Nach zwei Außenprüfungen für das Streitjahr ging das Finanzamt davon aus, dass die Steuerpflichtige zu Unrecht auf die Umsätze aus dem Verkauf der vor Ort verzehrten belegten Brötchen und Kuchenteile den ermäßigten Steuersatz angewandt habe. Die elektronischen Kassenaufzeichnungen seien unzutreffend, weil in erheblichem Umfang vor Ort verzehrte Speisen nur mit dem ermäßigten Steuersatz erfasst und auch entsprechend versteuert worden seien. Die Umsätze zum Regelsteuersatz seien entsprechend zu erhöhen.
Mit dem strittigen Bescheid folgte das Finanzamt den Prüferfeststellungen und setzte die Umsatzsteuer entsprechend fest. Einspruch und Klage vor dem Finanzgericht waren erfolglos.
Entscheidung
Auch die Revision hatte keinen Erfolg. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen sowie der tatsächlichen Würdigung des Sachverhalts durch das Finanzgericht ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, auf die Umsätze aus dem Verkauf von Backwaren und Fast-Food zum Verzehr vor Ort in den mit Sitzgelegenheiten ausgestatteten Filialen den Regelsteuersatz anzuwenden.
Dienstleistungselemente stehen im Vordergrund
Das FG hat angenommen, bei einer Gesamtbetrachtung der durch die Steuerpflichtige im Falle des Verzehrs vor Ort erbrachten Leistungselemente stünden die Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Speisen im Vordergrund.
Die Steuerpflichtige habe den Kunden
* nicht nur Backwaren und Fast-Food verkauft,
* sondern diesen gegenüber auch zusätzliche Dienstleistungen erbracht, indem sie neben der Zubereitung der standardisierten Produkte zum Verzehr der Speisen Tische und Sitzmöglichkeiten sowie Tassen, Geschirr und Besteck zur Verfügung gestellt und sowohl das Mobiliar als auch das Geschirr gereinigt habe.
Das in und um die angemieteten Filialen durch die Steuerpflichtige aufgestellte Mobiliar sei sowohl aus objektiver Empfängersicht als auch nach den objektiven Gegebenheiten ausschließlich zur Nutzung durch die Kunden bestimmt gewesen.
Aufgrund dieser durch die Steuerpflichtige erbrachten Dienstleistungen
* Verzehrvorrichtungen
* Serviceleistungen
* Geschirrstellung
trete der Dienstleistungscharakter in den Vordergrund, obwohl in einigen Filialen der Steuerpflichtigen keine Garderoben und Toiletten vorgehalten worden seien und überdies kein Kellnerservice (im Sinne einer Bedienung am Sitzplatz) bestanden und es an einer völligen räumlichen Trennung der Vorkassenfilialen von den Vorkassenbereichen der Lebensmittelmärkte, in denen sie untergebracht waren, gefehlt habe.
Durch die Gestellung von Tischen und Stühlen, Geschirr und teilweise auch Dekoration sowie die Erbringung von Reinigungsleistungen im Hinblick auf diese Gegenstände sei die Gesamtleistung aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers dennoch als Restaurationsleistung und damit Dienstleistung zu qualifizieren. Der personelle Einsatz könne (insbesondere im Vergleich zu dem erforderlichen personellen Einsatz im Falle eines Außer-Haus-Verkaufes) nicht mehr als nur geringfügig angesehen werden. Denn die Reinigung des Geschirrs, der Tische und Stühle sowie das Aufbringen der Dekoration gehe deutlich über die Herstellung, Zubereitung und den Verkauf der zum Verzehr vor Ort bestimmten Backwaren hinaus und binde Arbeitskraft.
Das gefundene Ergebnis entspreche außerdem dem Grundsatz, dass Bestimmungen, die Ausnahmen von einem allgemeinen Grundsatz darstellen, eng auszulegen sind.
Tatsächliche Feststellungen des Finanzgerichts sind für den BFH grundsätzlich bindend
Die oben dargestellte Würdigung des Finanzgerichts ist bei Anwendung der von EuGH und BFH aufgestellten Rechtsgrundsätze möglich und verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze. Die Würdigung durch das Finanzgericht bindet daher den BFH (§ 118 Abs. 2 FGO).
Keine unzulässige Rückwirkung
Aus verfassungsrechtlicher Sicht interessant ist der Hinweis in Randziffer 30 des Besprechungsurteils. Im Streitfall ist – entgegen der Auffassung der Steuerpflichtigen – Art. 6 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zur Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie mit zu berücksichtigen ist.
Zwar ordnet Art. 65 Durchführungsverordnung zur Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie die Anwendung dieser Regelungen erst ab dem 1.7.2011 an. Bestimmungen der Verordnung können aber trotzdem – zur Vermeidung einer unzulässigen Rückwirkung allerdings auch nur insoweit – in Vorjahren zur Auslegung herangezogen werden, als sie rückwirkend Begriffe klären, die sich bereits zuvor in der 6. EG-Richtlinie befunden haben.
Dies ist jedenfalls bei Artikel 6 Absatz 1 Sätze 1 und 3 Verordnung der Fall. Beide Sätze präzisieren in Bezug auf die unterstützenden Dienstleistungen, die den sofortigen Verzehr von Speisen ermöglichen, die Grundsätze der vorangegangenen Rechtsprechung des EuGH.
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BFH 15.9.21, XI R 25/19