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Der BFH hält den gesetzlichen Zinssatz von 0,5 % pro Monat = 6 % pro Jahr für verfassungswidrig und hat daher das Bundesverfassungsgericht angerufen.

Hintergrund

Einspruch und Klage gegen Steuerbescheide haben grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung.

Die Finanzbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, kann jedoch die Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Zudem kann auf Antrag auch das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Letzteres setzt allerdings voraus, dass die Finanzbehörde vor Antragstellung bei Gericht einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat, die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder die Vollstreckung droht.

Eine Aussetzung der Vollziehung bewirkt, dass die Finanzbehörde vorläufig nicht vollstrecken darf. Da der Steuerpflichtige die Vollstreckung nicht befürchten muss und auch keine weiteren Säumnisfolgen eintreten, kann er für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung die Zahlung folgenlos zurückhalten.

Soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen ausgesetzten Steuerbescheid endgültig keinen Erfolg gehabt haben, ist der ausgesetzte Steuerbetrag zu verzinsen. Das Gesetz sieht hierfür vor, dass für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung Zinsen i. H. v. 0,5 % für jeden vollen Monat festzusetzen sind.

Sachverhalt

Im Streitfall wollte der Steuerpflichtige den zur Höhe von Nachzahlungszinsen von ebenfalls 0,5 % pro Monat ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8.7.2021 auf die für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung zu zahlenden Zinsen übertragen. In diesem Beschluss hatte das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Niedrigzinsphase die Höhe der Nachzahlungszinsen ab 2014 für verfassungswidrig, das Gesetz aber erst ab 2019 für unanwendbar erklärt. Daraufhin setzte der Gesetzgeber den Zinssatz für Nachzahlungszinsen ab 2019 auf 0,15 % pro Monat herab.

Das FG lehnte eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf Aussetzungszinsen ab. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich darauf abgestellt, dass Nachzahlungszinsen durch eine verzögerte Bearbeitung der Finanzämter anfallen könnten, ohne dass der Steuerpflichtige hierauf Einfluss nehmen könne. Demgegenüber bestehe anstelle der Aussetzung der Vollziehung die Möglichkeit, den streitigen Steuerbetrag – ggf. über die Beschaffung eines zinsgünstigen Kredits – zu bezahlen und damit die Aussetzungszinsen zu vermeiden.

Entscheidung

Nach Auffassung des BFH ist der Zinssatz i. H. v. 0,5 % pro Monat für die Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung im Zeitraum vom 1.1.2019 bis 15.4.2021 (Ende des Zeitraums, für den im konkreten Streitfall Aussetzungszinsen festgesetzt wurden) mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Grundgesetz) unvereinbar. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Höhe des Zinssatzes an sich und auch die dadurch verursachte Zinsspreizung. Auch die Überlegungen zum Einfluss des Steuerpflichtigen auf die AdV überzeugen den BFH nicht.

Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe

Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Die hohen Zinsen wären zudem auch nicht erforderlich, um unnötige Steuerprozesse oder Rechtsbehelfe ohne ernsthafte Erfolgsaussichten zu verhindern.

Kein Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen

Für in den zu beurteilenden Zeitraum fallende Verzinsungszeiträume ist der Zinssatz von 0,5 % pro Monat als Typisierung evident nicht mehr in der Lage, den für die Höhe der AdV-Zinsen relevanten Erhebungszweck der Vorteilsabschöpfung realitätsgerecht abzubilden. Der gesetzliche Zinssatz ist damit in dieser Höhe nicht mehr zur Förderung dieses Gesetzeszwecks erforderlich. Die dafür verantwortliche anhaltende, strukturelle Niedrigzinsphase, auf die der Gesetzgeber nicht reagiert hat, endete erst im Jahr 2022.

Der BFH erkennt insoweit weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht erhebliche Unterschiede zu der Entscheidung des BVerfG zum Zinssatz bei der Vollverzinsung nach § 233a AO. Der im Streitfall anwendbare AdV-Zinssatz i. H. v. 0,5 % pro Monat ist unter den zu beurteilenden tatsächlichen Umständen gleichermaßen evident realitätsfern wie der vom BVerfG verworfene Zinssatz bei Nachzahlung. Mit einem deutlich niedrigeren AdV-Zinssatz hätte der Gesetzgeber den angestrebten Regelungszweck bei geringerer Ungleichbehandlung gleich wirksam fördern können.

Er hätte dabei auch nicht Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet. Die Entscheidung des Gesetzgebers, den AdV-Zinssatz angesichts dieser Umstände unverändert zu lassen, war für den hier zu beurteilenden Verzinsungszeitraum nicht mehr gerechtfertigt. Insbesondere war ein baldiges Ende der Niedrigzinsphase nicht absehbar.

Mit der Beibehaltung des AdV-Zinssatzes von 0,5 % während der andauernden Niedrigzinsphase setzt sich der Gesetzgeber nach Ansicht des BFH zudem in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten. Mit der (rückwirkenden) deutlichen Absenkung des Zinssatzes für Nachzahlungen und Erstattungen gemäß § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1a AO auf nur noch 0,15 % pro Monat hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er diesen Zinssatz jedenfalls während der andauernden Niedrigzinsphase für ausreichend erachtet, um den durch spätere Zahlung entstehenden Liquiditätsvorteil typisierend in voller Höhe abzuschöpfen.

Unnötige Steuerprozesse und Rechtsbehelfe werden so nicht vermieden

AdV-Zinsen von 0,5 % pro Monat sind in dieser Höhe auch nicht erforderlich, um unnötige Steuerprozesse zu verhindern. Es erscheint dem BFH schon zweifelhaft, ob die Verteuerung der AdV dem Grunde nach erforderlich sein kann, um Rechtsbehelfe zu verhindern, die sich rückwirkend als erfolglos darstellen. Als milderes und zielgenaueres Mittel kommt die einschränkende Regulierung der Voraussetzungen in Betracht, unter denen (vorläufiger) Rechtsschutz in Anspruch genommen werden kann.

Hinzu kommt, dass der Anreiz, „unnötige“ Verfahren zu führen, umso geringer wird, je niedriger der potenzielle Liquiditätsvorteil ausfällt, der durch die spätere Zahlung entstehen kann. Die Beibehaltung des Zinssatzes in der bisherigen Höhe könnte allenfalls dann erforderlich sein, wenn der Anreiz für unnötige Steuerprozesse mit dem Absinken des allgemeinen Zinsniveaus zunehmen würde. Das Gegenteil ist aber der Fall!

Verfassungswidrigkeit der Zinssatzspreizung

Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, werden ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen werden seit dem 1.1.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 % für jeden Monat, also 1,8 % pro Jahr berechnet. Die AdV-Zinsen (0,5 % pro Monat = 6 % pro Jahr) sind damit mehr als dreimal so hoch wie die Nachzahlungszinsen! Diese Zinssatzspreizung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Allenfalls eingeschränkte Handlungsoptionen des Steuerpflichtigen

Aus dem Umstand, dass Steuerpflichtige grundsätzlich die Wahl haben, ob sie AdV in Anspruch nehmen wollen, sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen, oder ob sie die fällige Steuer sofort entrichten, ergibt sich nichts anderes. Die drohenden AdV-Zinsen i. H. v. 0,5 % pro Monat können die Entscheidung in der Weise beeinflussen, dass sich Steuerpflichtige aus wirtschaftlichen Erwägungen dazu veranlasst sehen, vorläufigen Rechtsschutz nicht in Anspruch zu nehmen. Auf diese Weise beschränkt die Zinshöhe den Zugang zu effektivem Rechtsschutz zumindest mittelbar.

Für eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Prüfung spricht ferner, dass ein Teil der Steuerpflichtigen wirtschaftlich nicht auf die AdV verzichten kann. Insbesondere Steuerpflichtige, die nicht über ausreichende Eigenmittel verfügen und auch nicht (rechtzeitig) ausreichend hohe Fremdmittel beschaffen können, um den geschuldeten Betrag sofort zu begleichen, werden dadurch entlastet.

Steuerpflichtige, die aktuell nicht über ausreichende Mittel verfügen, können auch nicht generell darauf verwiesen werden, die Stundung des geschuldeten Betrags zu beantragen. Zum einen soll eine Stundung i. d. R. nur gegen Sicherheitsleistung gewährt werden. Zum anderen werden auch auf gestundete Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis Zinsen i. H. v. 0,5 % pro Monat erhoben.

Für eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Prüfung spricht nach Meinung des BFH schließlich, dass Steuerpflichtige, denen AdV gewährt worden ist und die deshalb den geschuldeten Betrag nicht sofort bezahlt haben, auf die Höhe der entstehenden Zinsen kaum noch Einfluss nehmen können. Das Ende der Zinspflicht hängt im Regelfall davon ab, wann der Fall entschieden und die ernstlichen Zweifel beseitigt sind beziehungsweise wann die AdV beendet ist. Darauf haben bei fehlender Zahlungsfähigkeit weder der Einspruchsführer noch der Kläger entscheidenden Einfluss. Die Dauer außergerichtlicher und gerichtlicher Rechtsbehelfsverfahren hängt entscheidend von der Arbeitsweise der zuständigen Finanzbehörde oder des zuständigen FG ab. Einspruchsführer können unter den Voraussetzungen Untätigkeitsklage erheben. Kläger können ihren prozessualen Mitwirkungspflichten, insbesondere den Erklärungspflichten, zeitnah nachkommen. Sie können gerichtliche Aufforderungen zeitnah erfüllen, eine zeitnahe Entscheidung anmahnen oder die Verzögerungsrüge erheben. Eine rasche Entscheidung erzwingen können sie nicht!

Praxistipp

Das Az. des BVerfG lautet 1 BvL 8/24. Der BFH ist von der Verfassungswidrigkeit der Höhe der AdV-Zinsen fest überzeugt. Bedeutung dürfte die Vorlage auch für Stundungs-, Hinterziehungs- und Prozesszinsen haben. Der Steuerberater muss diesbezügliche Verfahren offenhalten.

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