Präsentiert Ihnen ein Mandant seinen Behindertenausweis, um in der Einkommensteuererklärung einen Behinderten-Pauschbetrag zu beantragen, sollten Sie umgehend prüfen, ob die Schwere der Behinderung möglicherweise auch Vorteile für den Werbungskostenabzug bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit hat.
Denn behinderte Arbeitnehmer dürfen für die Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte statt der Entfernungspauschale (= 0,30 EUR/km für die einfache Strecke) die tatsächlichen Fahrtkosten oder die Dienstreisepauschale (= 0,30 EUR/km für die Hin- und Rückfahrt) als Werbungskosten geltend machen, wenn eine der beiden folgenden Voraussetzungen erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 Satz 3 EStG; R 9.10 Abs. 3 Satz 1 LStR):
- Der Grad der Behinderung (GdB) beträgt mindestens 70.
- Der Grad Behinderung beträgt mindestens 50 und der Arbeitnehmer ist zusätzlich in seiner Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (Merkzeichen „G“ oder „aG“).
Besonderheit 1: Leerfahrten berücksichtigen
Was in der Praxis in diesem Zusammenhang gern vergessen wird: Hat der behinderte Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung keinen Führerschein oder kann er wegen seiner Behinderung nicht mehr selbst Auto fahren und wird deshalb von seinem Ehegatten, seinen Kindern oder seinen Eltern zur Arbeit gefahren, dürfen auch die Leerfahrten als Werbungskosten geltend gemacht werden (R 9.10 Abs. 3 Satz 2 – LStR).
Bei der Geltendmachung von Leerfahrten empfiehlt es sich, zusätzlich zum Nachweis der Behinderung nach § 65 EStDV noch einen Nachweis in Form eines ärztlichen Attests zu erbringen, dass der behinderte Arbeitnehmer aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, seinen Führerschein zu machen oder das Auto selbst zu lenken.
Beispiel
Ihr Mandant ist wegen seiner Behinderung nicht in der Lage, selbst zur Arbeit zu fahren. Deshalb wird er täglich (an 210 Tagen im Jahr) von seinem Vater zur Arbeitsstelle gebracht und wieder abgeholt. Die einfache Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte beträgt 20 km.
Folge: Der Werbungskostenabzug für Ihren Mandanten beträgt demnach 5.040 EUR und lässt sich folgendermaßen ermitteln:
Fahrtkosten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (210 Tage × 20 km × 2 × 0,30 EUR/km)
2.520 EUR
+
Leerfahrten = Rückfahrt nach Hinfahrt zur Arbeit und Hinfahrt zur Rückholfahrt (210 Tage × 20 km × 2 × 0,30 EUR/km)
2.520 EUR
=
Werbungskosten gesamt
5.040 EUR
Normalerweise erkennt das Finanzamt ohne Nachweis bei einer 5-Tage-Woche 230 Fahrten im Jahr und bei einer 6-Tage-Woche 280 Fahrten pro Jahr bei Ermittlung des Werbungskostenabzugs an. Bei behinderten Steuerzahlern, die höhere Fahrtkosten geltend machen und auch noch Leerfahrten berücksichtigen, möchte das Finanzamt in der Regel einen Nachweis sehen, an wie vielen Tagen der Weg zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte in einem Jahr tatsächlich zurückgelegt wurde. Deshalb empfiehlt es sich, die Fahrttage und den Namen des Fahrers schriftlich festzuhalten.
Praxistipp | In der Anlage N zur Einkommensteuererklärung 2019 sind bei Berücksichtigung von Leerfahrten in Zeile 35 die doppelten Arbeitstage (in unserem Beispielsfall also 420 Tage) und in der letzten Spalte die Ziffer 1 einzutragen.
Da Nachfragen des Finanzamts sowieso vorprogrammiert sind, könnten Sie die Bearbeitung der Einkommensteuererklärung 2019 beschleunigen, indem Sie im Mantelbogen zur Einkommensteuererklärung in Zeile 40 die Ziffer 1 für „Ergänzende Angaben zur Steuererklärung“ eintragen und dem Finanzamt ein Schreiben mit der Ermittlung der Fahrtkosten und der Aufstellung, an welchen Tagen den Arbeitnehmer wer gefahren hat, per Post oder Fax zuschicken.
Unfallkosten auf einer Leerfahrt
In der Praxis stellt sich die Frage, ob auch Unfallkosten für einen auf einem der beiden Wege der Leerfahrten verursachten Unfall neben den Fahrtkosten als Werbungskosten abziehbar sind. Die Frage ist zu bejahen. Denn durch den Hinweis, dass bei einer entsprechenden Behinderung ein Werbungskostenabzug für Leerfahrten möglich ist, werden diese Fahrten zu beruflich veranlassten Fahrten. Und für Unfallkosten auf solchen beruflich veranlassten Wegen kommt ein Werbungskostenabzug in Betracht.
Praxistipp | Beantragen Sie für einen Mandanten Werbungskosten für einen Unfall auf einer Leerfahrt, erwartet das Finanzamt in aller Regel aussagekräftige Nachweise wie Polizeibericht, Meldung an die Versicherung oder Zeugenaussagen.
Besonderheit 2: Rückwirkende Geltendmachung höherer Werbungskosten
Legt ein Mandant erstmals einen Behindertenausweis vor, sollten Sie unbedingt darauf achten, ab wann der Grad der Behinderung festgestellt wurde. Denn häufig wird der Grad der Behinderung vom Versorgungsamt nach einem Einspruchs- oder Klageverfahren für mehrere zurückliegende Jahre festgestellt.
Der Schwerbehindertenausweis ist für den Einkommensteuerbescheid ein Grundlagenbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. In der Praxis können Sie deshalb auch die Änderung bereits bestandskräftiger Steuerbescheide beantragen. In der Praxis wird jedoch häufig nur die nachträgliche Berücksichtigung des Behinderten-Pauschbetrags beantragt.
Dabei können natürlich auch die höheren Fahrtkosten für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte ab dem Tag der Feststellung der Behinderung (Datum kann Behindertenausweis entnommen werden) rückwirkend im Sinn von § 175 Abs. 1 Satz 1 AO wegen eines entsprechenden Grades der Behinderung beantragt werden (R 9.10 Abs. 3 Satz 4 LStR; BMF 31.10.13, IV C 5 – S 2351/09/10002: 002, Tz. 3).
Besonderheit 3: Zweijährige Ablaufhemmung beachten
Bei ressortfremden Grundlagenbescheiden, also bei Grundlagenbescheiden, die nicht von einer Finanzbehörde im Sinne von § 6 Abs. 2 AO erlassen wurden, gilt eine zweijährige Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 2 AO. Damit eine Änderung bereits bestandskräftiger Bescheide bei rückwirkender Feststellung eines Grades der Behinderung in Betracht kommt, muss der Änderungsantrag nach § 175 Abs. 1 Satz 1 AO innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist gestellt werden.
Im Vergleich zur „normalen“ Ablaufhemmung im Sinne von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO, bei der die zweijährige Ablaufhemmung mit Bekanntgabe des Grundlagenbescheids beginnt, beginnt die Frist für die zweijährige Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 2 AO im Zeitpunkt, in dem das für den Folgebescheid zuständige Finanzamt positive Kenntnis von dem Erlass und dem Inhalt des ressortfremden Grundlagenbescheids erhält.
Beachten Sie | Positive Kenntnis bedeutet, dass Sie als Steuerberater beim Finanzamt einen Antrag auf Änderung von bereits bestandskräftigen Steuerbescheiden stellen und dem Finanzamt den Grundlagenbescheid des Versorgungsamts (= Behindertenausweis) vorlegen. Die bloße elektronische Mitteilung des Versorgungsamts über die erstmalige Feststellung eines Grades der Behinderung oder eine Änderung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 AO gilt dagegen nicht als positive Kenntnis.
Beispiel
Ihr Mandant bekam am 4.7.2019 nach einem jahrelangen Rechtsstreit vom Versorgungsamt einen Behindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 80 und dem Merkzeichen G. Die Feststellung erfolgte rückwirkend ab dem Jahr 2015. Der Steuerberater reicht am 28.2.2021 die Einkommensteuererklärung 2019 beim Finanzamt ein, legt den neuen Behindertenausweis vor und beantragt auch für die Jahre ab 2015 die Berücksichtigung des Behinderten-Pauschbetrags und des höheren Werbungskostenabzugs.
- Jahr 2015
- Ablauf der Festsetzungsfrist 31.12.2019
- Begründung
Eine Änderung des Steuerbescheids 2015 ist nicht mehr möglich, weil die vierjährige Festsetzungsfrist nach § 169 AO bei Antragstellung im Jahr 2020 bereits abgelaufen war. - 2016
- 28.2.2022
- Eine Änderung des Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 AO ist möglich, da der Antrag noch innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist gestellt wurde. Die zweijährige Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 Satz 2 AO beginnt am 28.2.2020 mit der positiven Kenntnis des Finanzamts über den ressortfremden Grundlagenbescheid (= Behindertenausweis)
- 2017
- 28.2.2022
- wie 2016
- 2018
- 28.2.2022
- wie 2016