Auch unter unionsrechtlichen Aspekten besteht kein Anspruch des Leistungsempfängers auf Erstattung zu Unrecht vom Leistenden in Rechnung gestellter USt gegen den Fiskus, wenn eine Erstattung vom Leistenden wegen dessen Insolvenz nicht mehr erreicht wird.
BFH 30.6.15, VII R 30/14, EuGH 15.3.07, Rs. C-35/05, Reemtsma
Sachverhalt
Die Klägerin (K) veranstaltete Messen und kaufte dazu Leistungen von der Firma E ein. Letztere stellte Rechnungen aus, in denen sie für die Jahre 1999 bis 2005 Umsatzsteuer in Höhe von über 4,8 Mio. EUR offen auswies. Diesen Betrag führte die E an Finanzamt 1 ab. Gleichzeitig machte K gegenüber dem zuständigen Finanzamt 2 Vorsteuern in gleicher Höhe geltend.
Im Zuge einer Umsatzsteuersonderprüfung bei K wurde festgestellt, dass die Leistungen der E im Ausland erbracht wurden und im Inland nicht umsatzsteuerbar waren. Daraufhin erstattete K große Teile der Vorsteuerbeträge an Finanzamt 2 und forderte von der E die Rückzahlung der rechtswidrig gezahlten Umsatzsteuer bzw. die Abtretung deren Erstattungsanspruchs gegen Finanzamt 1.
Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der E erstattete Finanzamt 1 den Betrag der Insolvenzmasse. Der Insolvenzverwalter erteilte K berichtigte Rechnungen ohne Ausweis der Umsatzsteuer. Zugleich verwies der Verwalter K auf die Anmeldung des Erstattungsbetrags zur Insolvenztabelle.
Daraufhin beantragte K bei Finanzamt 1 die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer gemäß § 37 Abs. 2 AO i.V.m. § 14c Abs. 1, § 17 UStG. Mit dem streitigen Abrechnungsbescheid lehnte Finanzamt 1 diesen Antrag ab. Das Finanzgericht teilte diese Rechtsauffassung.
Insbesondere ergebe sie sich nicht aus dem Urteil des Gerichtshofs
der Europäischen Union (EuGH) Reemtsma vom 15.3.2007 C-35/05 (EU:C:2007:167).
Zwar müssten danach die Mitgliedsstaaten, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer durch den Leistungserbringer unmöglich oder übermäßig erschwert sei, die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichten, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen.
Es sei nach diesen Grundsätzen aber nicht zu beanstanden, wenn das deutsche Umsatzsteuerrecht die Klägerin in erster Linie auf die zivilrechtliche Geltendmachung ihres Erstattungsanspruchs verweise.
Die Geltendmachung im Insolvenzverfahren könne in diesem Zusammenhang nicht als unmöglich und auch nicht als wesentlich schwieriger angesehen werden als eine Zivilklage gegen den Leistungserbringer. Lediglich für den auf diese Weise nicht realisierbaren Teil des Erstattungsanspruchs müsse das deutsche Recht zusätzliche Mittel bereitstellen, damit volle Erstattung ermöglicht werde.
Hierzu bedürfe es aber nicht einer sinnwidrigen Auslegung des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO.
Vielmehr stelle das deutsche Abgabenrecht mit den Billigkeitsregelungen der §§ 163 und „227 AO ein hinreichend effektives Mittel zur Verfügung, um dem Leistungsempfänger, der dem Leistungserbringer zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer gezahlt habe und sie von diesem nicht (vollständig) zurückerlangen könne, volle Erstattung zu ermöglichen.
Diese auf Billigkeit beruhende Erstattung könne in vollem Umfang im Rahmen ihres eigenen Steuerverhältnisses, nämlich im Verfahren der Vorsteuererstattung gewährleistet werden. Das Urteil ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 1566 veröffentlicht.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet ab. Die Klägerin hat gegen Finanzamt 1 keinen Anspruch auf Erstattung des Umsatzsteuerbetrags, der ihr von E zu Unrecht in Rechnung gestellt worden ist:
K kann ihren Erstattungsanspruch gegenüber Finanzamt 1 nicht auf § 37 Abs. 2 AO stützen. Nach dieser Vorschrift hat nur derjenige einen Erstattungsanspruch aus Überzahlungen, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist. Das sind hinsichtlich der zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer allein die Rechnungsaussteller, die ihre Rechnungen nach § 17 UStG berichtigt haben.
Ob K eine Erstattung der Vorsteuer im Billigkeitswege (§§ 163, „227 AO) zuerkannt werden kann, hat der BFH im vorliegenden Rechtsstreit über den Abrechnungsbescheid des Finanzamts 1 nicht zu entscheiden. Es liegt bei K, einen solchen Anspruch in einem neuen Verfahren bei Finanzamt 2 geltend zu machen. Denn nur zu diesem Finanzamt steht K in einem Steuerschuldverhältnis, in dem Ansprüche nach den Vorschriften der AO geltend gemacht werden können.
Praxishinweis
Der BFH gibt zu erkennen, dass er einen Billigkeitsentscheidung für „nicht von vornherein ausgeschlossen“ hält. Im Hinblick auf die Reemtsma-Entscheidung des EuGH wäre dazu aber wohl ein neuerliches Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten (Rz. 25 des Besprechungsurteils).