Im B2B-Bereich ist die Umsatzsteuer grundsätzlich ein „durchlaufender Posten“. Führt der leistende Unternehmer – aufgrund von Umstellungsproblemen 19 % bzw. 7 % an das Finanzamt ab, wird es im Juli nicht beanstandet werden, wenn der Leistungsempfänger, die ausgewiesene, vom Leistenden abgeführte und vom Leistungsempfänger bezahlte Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend macht. |
Ein Praxisfall verdeutlicht das Problem vieler Unternehmen/Mandanten:
Sachverhalt
Der deutsche Reifenhersteller R verkauft dem ebenfalls deutschen Automobilhersteller A 10.000 Reifen. Der Spediteur beginnt am 30.6.2020 mit dem Verladen. Abgeholt sein werden alle Reifen am 2.7.2020.
Umgangssprachlich tätigt R gegenüber A
* eine (1) Lieferung
* im Umfang von 10.000 Reifen.
Umsatzsteuerlich führt der Vorgang dagegen zu
* 10.000 Lieferungen
* im Umfang von einem (1) Reifen.
Eigentlich ist eine tagesgenaue Abrechnung erforderlich!
Für jede dieser 10.000 Lieferungen ist damit eigentlich gesondert der Lieferzeitpunkt zu bestimmen:
* Soweit die Reifen am 30.6.2020 verladen werden, erfolgen die Lieferungen zum bisherigen allgemeinen Umsatzsteuersatz 19 %.
* Soweit die Reifen am 1./2.7.2020 verladen werden, erfolgen die Lieferungen zum abgesenkten Umsatzsteuersatz 16 %.
Der Reifenhersteller müsste daher die Rechnung nach Steuersätzen splitten und dazu den genauen Ladezeitpunkt der einzelnen Reifen erfassen.
Das Problem
Das Splitten ist in der Praxis häufig tatsächlich nicht möglich. Der Reifenhersteller kann nur den Gesamtvorgang erfassen und diesen entweder mit 19 % oder mit 16 % abrechnen:
* Rechnet der Hersteller insgesamt – also alle Lieferungen – mit 19 % ab, ist der Umsatzsteuerausweis für die nach dem 30.6.2020 verladenen Reifen zu hoch. Der Kunde wäre insoweit nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt.
* Rechnet der Hersteller insgesamt mit 16 % ab, ist der Umsatzsteuerausweis für die vor dem 1.7.2020 verladenen Reifen zu niedrig. Der Hersteller müsste daher aus dem vermeintlichen (Netto-)Entgelt die Differenz nachzahlen.
Die Lösung des BMF
Auch auf Drängen der Bundessteuerberaterkammer (BStBK) sieht das BMF in seinem die Umsatzsteuerabsenkung begleitenden Schreiben (23.6.2020, Ziffer 3.12) folgende Nichtbeanstandungsregelung vor:
„Hat der leistende Unternehmer für eine nach dem 30.6.2020 und vor dem 1.8.2020 an einen anderen Unternehmer erbrachte Leistung in der Rechnung den vor dem 1.7.2020 geltenden Steuersatz (19 % anstelle von 16 % bzw. 7 % anstelle von 5 %) ausgewiesen und diesen Steuerbetrag abgeführt, wird es aus Vereinfachungsgründen nicht beanstandet, wenn der Unternehmer in den Rechnungen den Umsatzsteuerausweis nicht berichtigt. Einem zum Vorsteuerabzug berechtigten Leistungsempfänger wird aus Gründen der Praktikabilität aus derartigen i. S. v. § 14c Abs. 1 UStG unrichtigen Rechnungen auch für die nach dem 30.6.2020 und vor dem 1.8.2020 seitens eines Unternehmers erbrachte Leistung ein Vorsteuerabzug auf Grundlage des ausgewiesenen Steuersatzes gewährt. Für Umsätze, für die der Leistungsempfänger die Steuer nach § 13b UStG schuldet, gilt dies entsprechend für die vom Leistungsempfänger berechnete Steuer.“
Ergebnis: Damit kann
* der Reifenhersteller (unter den weiteren Voraussetzungen) alle Lieferungen der (bisherigen) 19%igen Umsatzsteuer unterwerfen und,
* der Kunde (unter den weiteren Voraussetzungen) kann den vollen Vorsteuerabzug in Anspruch nehmen.
Praxistipp | Nach zutreffender Auffassung der Bundessteuerberaterkammer (BStBK) ist die Billigkeitsregel zwingende Folge des Neutralitätsgrundsatzes. Doch die BStBK geht in ihrer Stellungnahme vom 19.6.2020 weiter und fordert eine entsprechende gesetzliche Regelung:
„Anpassung von § 27 UStG
Bei Unternehmern, die zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, wird es im Wege der Billigkeit nicht beanstandet, wenn diese ihr Recht auf Vorsteuerabzug i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in Höhe des Regelsteuersatzes von 19 % (anstelle von 16 %) bzw. des ermäßigten Steuersatzes von 7 % (anstelle von 5 %) geltend machen, sofern ihnen der erhöhte Steuerbetrag von einem anderen Unternehmer in einer Rechnung unrichtig i. S. v. § 14c Abs. 1 UStG fakturiert wurde und vom zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer beglichen wurde. Die Maßnahme gilt entsprechend für Abrechnungen im Rahmen des sog. Gutschriftverfahrens nach § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG.“
Eine solche Regelung ist aus folgenden Gründen dringend geboten:
Nach der Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteile vom 2.4.1998, V R 34/97, BStBl. II S. 695; v. 6.12.2007, V R 3/06, BStBl. 2009 II S. 203) ist ein Vorsteuerabzug nicht zulässig, soweit der die Rechnung ausstellende Unternehmer die Steuer nach § 14c UStG schuldet. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Steuersatzänderungen bei den Unternehmern regelmäßig zu erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten führen. Massenhafte Rechnungs- und Vertragskorrekturen und Anpassungen von Umsatzsteuervoranmeldungen sind die bürokratische Folge hieraus.
Erfolgt die Steuersatzänderung dann – wie konkret – auch noch sehr kurzfristig und zeitlich begrenzt, sodass es sogar zu mehrfachen Umstellungen kommt, ist die Umsetzung für viele Unternehmen nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu bewältigen. Um jedoch eine reibungslose Umsetzung der Steuersatzänderung und damit der Ankurbelung der Wirtschaft sicherzustellen, sollte der Gesetzgeber die vorgeschlagene Billigkeitsregelung erlassen.
Dem Fiskus erwächst hieraus grundsätzlich kein Nachteil, da die zu hoch ausgewiesene Umsatzsteuer vom Rechnungsaussteller (Leistender) geschuldet wird, während der Rechnungsempfänger (Leistungsempfänger) sie – unter den allgemeinen Voraussetzungen – in Abzug bringen kann. Durch die Billigkeitsmaßnahme wird insbesondere das ansonsten administrativ sehr aufwendige Berichtigungsverfahren vermieden. Die Regelung führt damit gleichzeitig auch zu einer Entbürokratisierung.
Fundstellen
* BMF 30.6.20, III C 2 – S 7030/20/10009,
* BStBK, Stellungnahme vom 19.6.20