„Die Qualität im Postbereich steht in zunehmendem Maße im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit“, schreibt die Bundesnetzagentur. Kein Wunder, denn die Brieflaufzeiten der Deutschen Post AG waren 2021 nach deren Jahresbericht auf dem schlechtesten Stand der vergangenen zehn Jahre. Beschwerden zum Briefbereich bezogen sich bei der Bundesnetzagentur in 2021 „vor allem auf immer wieder auftretende zeitlich verzögerte Briefzustellungen“ (Jahresbericht 2021). Was ist, wenn man ein Schreiben wie z. B. einen Einspruch an eine Behörde vermeintlich so frühzeitig versendet, dass er dort rechtzeitig innerhalb einer gesetzten Frist zugehen müsste, aber erst nach Fristablauf ankommt? Der BFH hat hierzu eine Entscheidung gefällt, die von erheblicher Praxisrelevanz ist.
Hintergrund
Nach § 120 Abs. 2 FGO ist eine eingelegte Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen angefochtenen Urteils schriftlich zu begründen. Im Fall einer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde verkürzt sich die Frist auf einen Monat nach Zustellung des Beschlusses. Die Übermittlung mittels einfacher E-Mail genügt der Schriftform auch dann nicht, wenn ihr eine Anlage mit handschriftlicher Unterschrift angehängt ist (BFH 29.11.22, VIII B 88/22).
Wurde die Revision nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt bzw. begründet, so ist sie unzulässig (§ 124 Abs. 1 FGO). Die Frist zur Begründung kann jedoch nach § 120 Abs. 2 Satz 3 FGO auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Dies ist auch mehrmals möglich.
Geht der Antrag erst nach Ablauf der Begründungsfrist beim BFH ein, kann er nicht mehr zu deren Verlängerung führen. „Hier kann nur durch einen (rechtzeitigen) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzgl. der Begründungsfrist (nicht bzgl. des verspäteten Verlängerungsantrags) geholfen werden.“ (Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 163. Lieferung 10.2020, § 120 FGO, Rz. 74).
Sachverhalt
Dem Revisionskläger wurde vom BFH die Frist zur Begründung seiner (fristgerecht eingelegten) Revision zuletzt bis zum 17.1.22, einem Montag, verlängert. Laut Eingangsstempel des BFH ist die Begründungsschrift am 18.1.22 eingegangen. Deren Briefumschlag wurde durch die Deutsche Post AG mit „… 140122-21 …“ gestempelt.
Der BFH wies den Kläger daher auf die versäumte Frist hin, worauf dieser mit einem am 27.1.2022 eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte. Der Prozessbevollmächtigte versicherte an Eides statt, dass er die Steuerberatertätigkeit nur in sehr geringem Umfang ausübe und kein Frist- oder Postausgangsbuch führe. Die Revisionsbegründung habe er am Freitag, den 14.1.2022 ziemlich genau um 17:40 Uhr in den Briefkasten geworfen. Anschließend habe er noch den gelben Sprinter der Post und die Leerung der beiden Briefkästen gesehen. Er habe deshalb darauf vertraut, dass der Brief am Montag beim BFH eingehen werde. Zeugen könne er allerdings nicht benennen.
Auffassung des Finanzamts
Das beklagte FA hielt die Fristversäumung dagegen für verschuldet. Der Prozessbevollmächtigte hätte auf weitere Zustellmöglichkeiten zurückgreifen können und sich ferner am letzten Tag der Frist beim BFH erkundigen müssen, ob das Schriftstück eingegangen ist, um es ggf. durch Telefax zu übermitteln oder nach München zu bringen.
Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Sowohl nach dem im Besprechungsfall einschlägigen § 56 Abs. 1 FGO als auch nach § 110 Abs. 1 AO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten.
Der erforderliche Antrag muss innerhalb einer bestimmten Zeit nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden:
* Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO: grundsätzlich zwei Wochen
* Bei Versäumung der Frist zur Begründung der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde: einen Monat
* Nach § 110 Abs. 2 Satz 1 AO: einen Monat
Darüber hinaus gilt für die Wiedereinsetzung:
* Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO, § 110 Abs. 2 Satz 2 AO), z. B. bedarf es zur Glaubhaftmachung einer rechtzeitigen Absendung eines Antrags auf Fristverlängerung konkreter Angaben darüber, wann, von wem und in welcher Form die Sendung zur Post gegeben wurde. Im Regelfall ist dem Poststempel auf dem Briefumschlag zu entnehmen, wann eine Sendung in den Postbetrieb gelangt ist (BFH 26.9.90, IV R 121/89, BFH/NV 1991, 826).
* Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO, § 110 Abs. 2 Satz 3 AO).
* Ist dies geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 56 Abs. 2 Satz 4 FGO, § 110 Abs. 2 Satz 4 AO).
* Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder ohne Antrag bewilligt werden, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 56 Abs. 3 FGO, § 110 Abs. 3 AO).
* Möglich ist auch eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist.
Entscheidung des BFH
Der BFH hat dem Antrag entsprochen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Nach Auffassung des erkennenden Senats dürfen Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung, die der Rechtsmittelführer nicht zu vertreten hat und auf die er auch keinen Einfluss besitzt, nicht als dessen Verschulden gewertet werden. Er darf darauf vertrauen, dass die von der Deutschen Post AG nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden.
In der Verantwortung des Rechtsmittelführers liegt es nur, das bestimmte Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, dass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG bei regelmäßigem Dienstablauf den Empfänger fristgerecht erreicht.
„Normalfall“ bzw. „regelmäßiger Dienstablauf“
Die Grundversorgung (Universaldienst) mit postalischen Leistungen, zu der sich die Deutsche Post AG verpflichtet hat, ist in der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) gesetzlich geregelt. Zu dieser Grundversorgung gehören u. a. die werktägliche Brief- und Paketzustellung, eine Mindestanzahl an Filialen, die Leerung von Briefkästen und deren Entfernung zu Wohngebieten etc., aber auch die Laufzeiten von Sendungen.
So müssen gemäß § 2 Nr. 3 Satz 1 PUDLV von den an einem Werktag eingelieferten inländischen (normalen) Briefsendungen im Jahresdurchschnitt mindestens 80 % an dem ersten und 95 % bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden. Aus § 2 Nr. 2 PUDLV ergebe sich nach dem BFH, dass auch der Samstag ein Werktag ist. Als Einlieferung in dem Sinne gilt der Einwurf in einen Briefkasten an einem Werktag jedenfalls dann, wenn der Briefkasten an demselben Werktag noch planmäßig und auch tatsächlich geleert wird.
Die vorgeschriebene Postlaufzeit von zwei Werktagen ab Einlieferung für 95 % aller Briefsendungen stellt somit den „Normalfall“ bzw. „regelmäßigen Dienstablauf“ dar, auf den der Absender vertrauen kann, wenn nicht im Zeitpunkt der Absendung konkrete Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Laufzeit überschritten werde. Das kann der Fall sein, wenn festzustellen ist, dass die Deutsche Post AG den allgemeinen Vorgaben der PUDLV strukturell nicht mehr genügt oder wenn im konkreten Einzelfall Besonderheiten dem üblichen Lauf entgegenstehen (Streik, höhere Gewalt).
Keine weiteren Pflichten des Absenders
Der Rechtsmittelführer kann Rechtsmittelfristen grundsätzlich bis zu ihrem letzten Tag in Anspruch nehmen. Allerdings obliegt es ihm gegen Ende der Frist, eine Beförderungsart zu wählen, die die Einhaltung der Frist gewährleistet. Er ist aber nicht verpflichtet, im Rahmen der üblichen Postlaufzeiten alternative Beförderungsmittel zu nutzen.
Im Streitfall durfte der Absender nach den vorstehenden Maßstäben auf die Einhaltung der Postlaufzeit vertrauen, dass seine am Freitag eingeworfene Briefsendung bis zum Fristablauf am Montag, dem übernächsten Werktag, den BFH erreicht. In dem Fall muss er sich nach Absendung auch nicht zusätzlich (z. B. durch telefonische Nachfrage beim Empfänger) nach dem pünktlichen Eingang des Poststücks erkundigen.
Der Poststempel auf dem Briefumschlag zeigt, dass die Sendung noch an demselben Tag bei der Post bearbeitet wurde und lässt die Schilderung des Klägers zum tatsächlichen Geschehensablauf glaubhaft erscheinen. Ist die rechtzeitige Absendung eines fristwahrenden Schriftsatzes glaubhaft gemacht worden, bedarf es keiner Darlegung darüber, wie die Fristenkontrolle organisiert ist.
Weitere Rechtsprechung zu Postlaufzeiten
* Unverschulden auch bei Versand nur einen Werktag vor Fristende
Nach einem Beschluss des OLG Celle vom 9.7.2021, 2 Ws 194/21, darf sogar darauf vertraut werden, dass ein Schreiben am Werktag nach der rechtzeitigen Einlieferung bei der Post beim Empfänger eingeht. Die rechtzeitige Einlieferung ist durch einen Poststempel des Briefzentrums am Tag vor Fristablauf nachgewiesen.
Auch nach Auffassung eines anderen BFH-Senats ist eine Fristversäumnis unverschuldet, wenn ein Brief nur einen Werktag vor Fristende bei der Post aufgegeben wurde (BFH 21.4.21, XI R 42/20, BStBl II 22, 20).
* Keine Anwendung bei Versand aus dem Ausland
Selbstverständlich können die vorgenannten Grundsätze nur bei einem Versand innerhalb des Inlands gelten. So entschied das Verwaltungsgericht Köln mit Urteil vom 16.4.2018, 7 K 12428/17, dass die Aufgabe zur Post bspw. in der Ukraine erst einen Tag vor Fristablauf nicht ausreicht, da überlange Postlaufzeiten für die Einhaltung von Fristen einkalkuliert werden müssen. Angaben der Deutschen Post AG zu Laufzeiten in die Gegenrichtung können hierfür eine Orientierung darstellen.
Diese hat auch das FG Hamburg (16.10.13, 4 K 26/13) zugrunde gelegt und deshalb für Briefe aus Polen eine Laufzeit von zwei bis drei Tagen berücksichtigt, wobei man von dem oberen Ende der Spanne ausgehen müsse.
* Bei anderen Briefdienstleistendern sind abweichende Brieflaufzeiten zu beachten
Wählt man dagegen einen Mitbewerber der Deutschen Post AG, hat man nach Auffassung des LSG Niedersachsen-Bremen (21.8.17, L 2 R 49/17) zu prüfen, ob eine fristwahrende Zustellung mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung mit der Deutschen Post AG. Diese Prüfung wird regelmäßig daran scheitern, dass die Mitbewerber oftmals keine hinreichend verlässlich gewährleisteten Postlaufzeiten veröffentlichen, deren tatsächliche Einhaltung durch (veröffentlichte) Auswertungen neutraler Prüfinstitute belegt werden.
Lässt sich eine entsprechende Gewissheit nicht gewinnen, dann wird der erforderlichen Sorgfalt bezüglich der Einhaltung von Fristen nur dann Genüge getan, wenn der tatsächliche rechtzeitige Zugang der Sendung (etwa durch eine telefonische Nachfrage noch rechtzeitig vor Fristablauf beim angerufenen Gericht) überprüft und ein bis dahin evtl. fehlender Zugang durch eine anderweitige fristwahrende Übermittlung (etwa per Telefax oder im elektronischen Rechtsverkehr) kompensiert wird.
Handlungsempfehlung
Das Urteil erging hinsichtlich der – (mehrfach) verlängerbaren – Frist zur Revisionsbegründung. Aufgrund der oben geschilderten Übereinstimmung der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in FGO und AO dürfte die Rechtsprechung auch für andere Fristen – insbesondere Ausschlussfristen – Relevanz haben. Hierunter fallen z. B. die Einspruchsfrist oder auch die Frist zur Abgabe einer Steuererklärung.
fundstelle
BFH 27.7.22, II R 30/21