Der Anteil der Kapitalleistung einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag), welcher von der Versicherungsgesellschaft erwirtschaftet wurde, gehört zu den Bezügen des Kindes. Dagegen handelt es sich bei dem Teil der Auszahlung, der auf angesparten Beiträgen beruht, um Vermögen. Die mangelnde Bestimmung eines Bezugs für Unterhaltszwecke muss sich regelmäßig aus den Umständen objektiv nachvollziehbar ableiten lassen. Allein die Erklärung des Kindergeldberechtigten oder des Kindes, ein Bezug sei nicht für den (gegenwärtigen) Unterhalt bestimmt, führt nicht dazu, dass dieser bei der Ermittlung der Selbstunterhaltsfähigkeit unberücksichtigt bleibt.
Sachverhalt
Streitig war der Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind, das die Auszahlung einer einmaligen Kapitalleistung aus einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag) wählte und erhielt.
Seit Juni 1983 war das behinderte Kind Versicherungsnehmer (und versicherte Person) eines Rentenversicherungsvertrags mit Gewinnbeteiligung, für den zunächst monatliche Beiträge rund 100 DM vereinbart waren. Die Beitragszahlungspflicht endete zum 1.6.2019. Die Beiträge hatte die Mutter (Anspruchsberechtigte) entrichtet. Das Kind erhielt – statt einer monatlichen Rente – zum 1.6.2019 eine einmalige Kapitalleistung aus dieser Versicherung in Höhe von rund 78.000 EUR. Daraufhin hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab 1.7.2019 auf. Den Einspruch der Anspruchsberechtigten wies die Familienkasse als unbegründet zurück.
Entscheidung
Dies sah der BFH jedoch anders. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 i. V. m. § 32 Abs. 4 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Das Tatbestandsmerkmal „außerstande, sich selbst zu unterhalten“ ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.
Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits.
Finanzielle Mittel: Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge, d. h. grundsätzlich alle Mittel, die zur Deckung seines Lebensunterhalts geeignet und bestimmt sind und ihm im maßgeblichen Zeitraum zufließen, nicht jedoch sein Vermögen.
Einnahmen: Als Einnahmen sind auch laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite anzusehen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen, sondern den Unterhaltsbedarf des Kindes decken und damit die Eltern bei ihren Unterhaltsleistungen entlasten sollen. Für die Eignung genügt es, dass der Zufluss entsprechend verwendet werden kann. Wie er tatsächlich verwendet wird, spielt keine Rolle.
Vermögen: Das Vermögen des behinderten Kindes gehört nicht zu den finanziellen Mitteln, die es für den Selbstunterhalt einzusetzen hat. Somit sind Einkünfte und Bezüge einerseits und Vermögen sowie Vermögensumschichtungen andererseits voneinander abzugrenzen. Während Einkünfte und Bezüge im Grundsatz alle finanziellen Mittel sind, die jemandem im maßgeblichen Zeitraum zusätzlich zufließen, die er also wertmäßig dazu erhält, ist Vermögen das, was er vor diesem Zeitraum bereits hatte.
Das FG war zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Zahlung der Versicherung insgesamt eine reine Vermögensumschichtung darstellt und deshalb nicht zu den finanziellen Mitteln gehört, die im Streitzeitraum Juli bis November 2019 in die Prüfung der Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt einzubeziehen sind.
Den von der Versicherung erwirtschafteten Betrag hatte das Kind weder angespart noch wurde er ihm von der Anspruchsberechtigten übertragen. Er ist zur Deckung des Lebensbedarfs des Kindes geeignet und bestimmt; es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er keine Entlastung der kindergeldberechtigten Mutter bewirken könnte. Für die Eignung zur Deckung des Lebensbedarfs genügt es, dass der Betrag entsprechend verwendet werden kann. Wie er tatsächlich verwendet wird oder ob er für die Zeit nach dem Tod der Anspruchsberechtigten angespart wird, spielt keine Rolle.
Nicht zu berücksichtigen ist der Kapital- oder Sparanteil der Versicherungsleistung. Insoweit liegt eine Vermögensumschichtung vor und es fehlt an einem Zufluss „von außen“. Außerdem wird – da die Anspruchsberechtigte dem Kind die Mittel für die Beitragszahlungen zur Verfügung gestellt hatte – dem Grundsatz Rechnung getragen, dass Vermögensübertragungen des Kindergeldberechtigten oder der Eltern auf das Kind bei der Ermittlung der Bezüge des Kindes außer Betracht zu lassen sind.
Die Betrachtung der Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei sind die Einkünfte und Bezüge nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt. Der danach verbleibende Teil der im Streitfall im Juni 2019 ausgezahlten Versicherungsleistung war auf den Zuflussmonat und die folgenden Monate des Zuflussjahrs zu verteilen.
fundstelle
BFH 15.12.21, III R 48/20