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Wie nicht anders zu erwarten, hat das Bundesverfassungsgericht Nachzahlungszinsen von 0,5 % pro Monat als verfassungswidrig eingestuft. Doch trotz dieser überfälligen Klarstellung ist die Finanzverwaltung mit einem blauen Auge davongekommen. Warum und welche steuerlichen Konsequenzen der Zins-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nach sich ziehen wird, beantworten wir im folgenden Praxisbeitrag.

Worum ging es in dem aktuellen Beschluss des Bundesverfassungs­gerichts?

In dem Beschluss des Verfassungsgerichts vom 8.7.2021 (zu den Verfahren 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) mussten die Karlsruher Verfassungsrichter klären, ob die Verzinsung von Nachzahlungszinsen nach § 233a AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für die Zeiträume 2010 bis heute der Höhe nach verfassungskonform sind.

Sind Zinsfestsetzungen für die Zeiträume zwischen 2010 bis einschließlich 2013 verfassungswidrig?

Nein. Für die Zinsfestsetzungszeiträume zwischen 2010 und einschließlich 2013 wurde die Höhe der Nachzahlungszinsen mit 0,5 % pro Monat noch als verfassungsgemäß eingestuft. Für diese Jahre ändert sich die Höhe der Nachzahlungszinsen also nicht.

Hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Zinsen für die Festsetzungszeiträume zwischen 2014 bis einschließlich 2018 als verfassungswidrig eingestuft?

Ja, für die Zinsfestsetzungszeiträume zwischen 2014 bis einschließlich 2018 ist der typisierend festgelegte Zinssatz für Nachzahlungszinsen „evident realitätsfern“ und damit als verfassungswidrig einzustufen. Dennoch ist das bisherige Recht für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar.

Für welche Zinsfestsetzungszeiträume muss der Gesetzgeber neue Zinssätze festlegen und bis wann?

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 8.7.2021 den Gesetzgeber aufgefordert, die Höhe der Zinsen für Nachzahlungszinsen anzupassen, also zu mindern. Die gesetzliche Minderung des Zinssatzes muss bis spätestens 31.7.2022 erfolgen.

Betrifft der Beschluss nur Zinsen nach § 233a AO oder auch weitere Verzinsungstatbestände?

Der Beschluss erstreckt sich ausdrücklich „nicht“ auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung. Das bedeutet: Es ergeben sich keine Auswirkungen auf Stundungszinsen sowie auf Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach §§ 234, 235 und 237 AO. Auch auf die Höhe der Prozesszinsen aus Erstattungsbeträgen hat der Beschluss keine Auswirkung.

Wie wirkt sich der Beschluss in der Praxis aus?

Beispiel

Im Rahmen einer Betriebsprüfung für die Jahre 2016 bis 2019 wurde für das Jahr 2016 durch einen Änderungsbescheid vom 21.7.2021 eine Steuernachzahlung von 50.000 EUR festgesetzt. Neben der Steuernachzahlung für 2016 wurden im Änderungsbescheid noch Nachzahlungszinsen i. H. v. 9.750 EUR festgesetzt. Die Zinsen berechnen sich folgendermaßen: Zinslauf vom 1.4.2018 bis 21.7.2021, wobei angefangene Monate außer Ansatz bleiben. Das bedeutet: 39 Zinsmonate × 0,5 % Zinsen = 19,5 % Nachzahlungszinsen auf 50.000 EUR.

Folge: Für die Zinsfestsetzungszeiträume vom 1.4.2018 bis 31.12.2018 (= 9 Monate × 0,5 % Zinsen = 5,5 % Nachzahlungszinsen) ändert sich aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts nichts. Die Nachzahlungszinsen i. H. v. 2.250 EUR (50.000 EUR × 4,5 %) sind verfassungsgemäß. Die Zinsen für die Zinsfestsetzungszeiträume vom 1.1.2019 bis 21.7.2021 (30 Zinsmonate = 15 %) sind dagegen verfassungswidrig. Hier muss das Finanzamt nach der gesetzlichen Anpassung der Zinssätze einen Teil der festgesetzten Nachzahlungszinsen niedriger festsetzen.

Praxistipp

Fordert das Finanzamt bisher im Rahmen der Aussetzung der Vollziehung nicht an das Finanzamt entrichtete Nachzahlungszinsen für Zinszeiträume bis Ende 2018, ist darauf zu achten, dass das Finanzamt darauf nicht zusätzlich Aussetzungszinsen festsetzen darf.

Was ist zu erwarten, wenn wegen der Verfahren beim Bundesverfassungsgericht die Aussetzung der Vollziehung beantragt wurde?
Hat ein Steuerzahler für die vergangenen Jahre Einspruch gegen die Zinsfestsetzungszeiträume eingelegt und eine Aussetzung der Vollziehung beantragt, muss er für die Zinsfestsetzungszeiträume bis zum 31.12.2018 mit Nachforderungen des Finanzamts rechnen. Denn da sich an der Höhe der Zinssätze bis Ende 2018 nichts ändert, sind die Einsprüche für diese Zinsfestsetzungszeiträume unbegründet und die Aussetzung der Vollziehung ist mangels Zweifeln an der Festsetzung nicht mehr begründet.

Was passiert mit Einsprüchen gegen die fragwürdige Festsetzung von Nachzahlungszinsen?

Zumindest für die Zinsfestsetzungszeiträume bis zum 31.12.2018 werden die Finanzämter entweder zur Rücknahme der durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unbegründeten Einsprüche auffordern. Aus verwaltungsökonomischen Gründen kann man jedoch davon ausgehen, dass hierzu eine Allgemeinverfügung erlassen wird, um die unbegründeten Einspruchsverfahren unbürokratisch für beendet zu erklären.

Es sind Schreiben des Finanzamts zur Verhinderung der Wirksamkeit von Steuerbescheiden im Umlauf. Was hat es damit auf sich?

Die wirksame Bekanntgabe eines Verwaltungsakts (hier Steuerbescheid mit Zinsfestsetzung) setzt den Bekanntgabewillen des für den Erlass des Verwaltungsakts zuständigen Bediensteten voraus (Nr. 4 des AEAO zu § 124). Zur Vermeidung der Wirksamkeit von Zinsfestsetzung mit verfassungswidrigen Zinsen, kann der Bekanntgabewillen widerrufen werden. Für Steuerbescheide mit Zinsfestsetzungszeiträumen ab 2019 könnte es passieren, dass noch vor Erhalt des Steuerbescheids die Aufgabe des Bekanntgabewillens im Briefkasten landet, sollte die Steuererklärung bereits bearbeitet worden sein und der Versand des Steuerbescheids nicht mehr verhindert werden können.

Praxistipp

Ein Verwaltungsakt ist auch dann nicht wirksam, wenn die Behörde dem Empfänger mit Bekanntgabe des Bescheids mitteilt, dass der Bescheid nicht gelten soll. Bei Versand mit einfachem Brief ist ein Widerruf bis zum Ablauf des nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO fingierten Bekanntgabetages möglich (Nr. 6 des AEAO zu § 124).

Kann das Finanzamt aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts bereits ausbezahlte Erstattungszinsen mindern und teilweise zurückfordern?

Nach dem Verständnis der Finanzverwaltung und des Bundesverfassungsgerichts (siehe dazu die Pressemitteilung des BVerfG Nr. 77/2021 vom 18.8.21) sind auch Erstattungszinsen i. S. d. § 233a AO für Zinsfestsetzungszeiträume ab 2019 verfassungswidrig. Das Recht auf teilweise Rückforderung von Erstattungszinsen durch das Finanzamt ist jedoch strittig. Denn es gilt für Erstattungszinsen ein Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO. Es muss nun von der Finanzverwaltung erörtert werden, ob der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts diesen grundsätzlichen Vertrauensschutz überlagern kann.

Hat sich die Finanzverwaltung schon geäußert?

Ja, es gibt inzwischen ein BMF-Schreiben vom 17.9.2021 (IV A 3 – S 0338/19/10004 :005), in dem sich die Verwaltung zu den Entscheidungen des BVerfG äußert. Danach werden derzeit vorläufig bis zu einer gesetzlichen Neuregelung weder Nachzahlungs- noch Erstattungszinsen festgesetzt. Nach Ergehen einer Neuregelegung werden diese Fälle dann wieder aufgegriffen.

fundstelle
BVerfG 8.7.21, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17