Das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn eines in Deutschland wohnenden, bei einem niederländischen Arbeitgeber beschäftigten Berufskraftfahrers steht nach Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 den Niederlanden zu, wenn er mit seinem Fahrzeug in den Niederlanden unterwegs gewesen ist (Grundprinzip der Besteuerung im Tätigkeitsstaat). Für Tage, an denen der Berufskraftfahrer sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland oder in einem Drittstaat unterwegs gewesen ist, steht das Besteuerungsrecht den Niederlanden nicht vollständig, sondern zeitanteilig zu.
Sachverhalt
Der in der Bundesrepublik Deutschland wohnende Steuerpflichtige war in den Streitjahren 2013 und 2014 bei einem niederländischen Arbeitgeber als Berufskraftfahrer beschäftigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit war er mit Transportfahrzeugen in den Niederlanden, in Deutschland, in Belgien, in Frankreich und in der Schweiz unterwegs. Im Jahr 2013 war er an insgesamt 130 von 219 Arbeitstagen sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland unterwegs; im Jahr 2014 war dies an 102 von 228 Arbeitstagen der Fall.
Der niederländische Fiskus besteuerte den gesamten vom Steuerpflichtigen in den Streitjahren bezogenen Arbeitslohn. Das FA sah das Besteuerungsrecht der Niederlande demgegenüber nur für den Teil des Arbeitslohns als gegeben an, der auf Tage entfiel, an denen der Steuerpflichtige eine ausschließlich durch die Niederlande führende Fahrtstrecke zurückgelegt hatte. Das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn, der auf ausschließlich außerhalb der Niederlande zurückgelegte Fahrtstrecken entfiel, stehe Deutschland zu. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Rechtsauffassung von FA und FG und entschied, dass das FG den Arbeitslohn, der auf Tage entfällt, an denen der Steuerpflichtige sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland oder in einem Drittstaat als Berufskraftfahrer unterwegs war, zutreffend als anteilig einkommensteuerpflichtig angesehen hatte.
Der im Inland wohnende Steuerpflichtige war gemäß § 1 Abs. 1 EStG mit seinen (Welt-)Einkünften unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Zu seinen steuerpflichtigen Einkünften gehörte auch der Arbeitslohn, den er für die Tätigkeit als Berufskraftfahrer von seinem niederländischen Arbeitgeber bezog (Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 EStG).
Das Besteuerungsrecht an diesen Einkünften richtet sich im Verhältnis zu den Niederlanden nach Art. 10 Abs. 1 des DBA-Niederlande. Die Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 vorhergehende sog. 183 Tage-Regelung des Abs. 2 der Bestimmung, die dem Wohnsitzstaat das ausschließliche Besteuerungsrecht am Arbeitslohn unter bestimmten Voraussetzungen unabhängig vom Ort der Arbeitsausübung zuweist, setzt nach ihrer Nr. 2 voraus, dass der Arbeitgeber des Steuerpflichtigen seinen Wohnsitz nicht in dem anderen Staat hat und war deshalb im Streitfall nicht einschlägig.
Ebenso wenig greift für den Arbeitslohn eines Berufskraftfahrers die Sonderregelung des Art. 10 Abs. 3 DBA-Niederlande 1959 für die Arbeitsausübung an Bord von Schiffen oder Luftfahrzeugen ein.
Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 bestimmt für den Fall, dass eine Person mit Wohnsitz in einem der Vertragsstaaten Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit bezieht, der andere Staat das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte hat, wenn die Arbeit in dem anderen Staat ausgeübt wird. Demnach wird das Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaats (Art. 20 Abs. 1 Satz 1 DBA-Niederlande 1959) für den Arbeitslohn nur insoweit eingeschränkt, als er auf eine Tätigkeit entfällt, die der Steuerpflichtige in dem anderen Staat verrichtet hat. Es gilt mithin im Anwendungsbereich des Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 das Grundprinzip der Besteuerung im Tätigkeitsstaat.
Für grenzüberschreitend tätige Berufskraftfahrer, deren Arbeitsort dort ist, wo sie sich mit den ihnen anvertrauten Fahrzeugen jeweils physisch aufhalten, folgt hieraus, dass das Arbeitsentgelt aufzuteilen ist.
Dies gilt auch für den Fall, dass der Kraftfahrer an einem Arbeitstag nur stundenweise in einem Staat tätig geworden ist.
Im Verhältnis zu Belgien, Frankreich oder der Schweiz, in deren Territorien der Steuerpflichtige ebenfalls seine Tätigkeit als Berufskraftfahrer ausübte, ist das deutsche Besteuerungsrecht am Arbeitslohn nicht eingeschränkt. Denn alle mit diesen Staaten abgeschlossenen, für die Streitjahre anwendbaren Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung enthalten sog. 183 Tage-Regelungen nach dem Vorbild des Art. 15 Abs. 2 OECDMustAbk.
Praxistipp
Der BFH machte deutlich, dass der Umstand, dass die niederländische Steuerverwaltung die Regelung des Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 offenbar entsprechend der Sichtweise des Steuerpflichtigen auslegt und dass im Falle des Steuerpflichtigen dessen gesamter Arbeitslohn der Streitjahre in den Niederlanden besteuert worden ist, die von ihm vertretene Rechtsauffassung nicht beeinflusst. Die dadurch ausgelöste Doppelbesteuerung könnte jedoch ggf. im Rahmen eines Verständigungsverfahrens (Art. 22 DBA-Niederlande) beseitigt werden.
Fundstelle
BFH 1.6.22, I R 45/18